17. Mai 2025
Eine neue religiöse Bewegung breitet sich rasant aus, während Naturgesetze unerklärliche Veränderungen zeigen. Im Zentrum der globalen Verunsicherung steht das CERN, dessen Teilchenforschung plötzlich mit mystischen Phänomenen, einem verstärkten Überwachungsstaat, instabilen Umlaufbahnen und dem Verschwinden eines Raumschiffs in Verbindung gebracht wird. Steht das naturwissenschaftliche Weltbild vor einem tiefgreifenden Wandel?
Ulrich Hegerl, der Psychiater und Vorsitzende der Stiftung Deutsche Depressionshilfe, entwirft in seinem neuen Roman „Riss im Sein“ ein faszinierendes Szenario zwischen Wissenschaft, Glaube und existenzieller Erschütterung.
Was geschieht, wenn ein angesehener Universitätspsychiater sein Amt abgibt – und beginnt, einen Roman zu schreiben? In „Riss im Sein“ begegnet uns ein Werk, das Naturwissenschaft und Philosophie, menschliche Grenzerfahrung und religiöse Tiefe miteinander verwebt. Christian Peschken (EWTN) sprach mit ihm über das, was bleibt, wenn alles zerfällt – und über den Mut, die eigene Seele offenzulegen.
Herr Professor, wie kam es dazu, dass Sie sich – nach einer wissenschaftlich geprägten Karriere – literarisch ausdrücken wollten?
Als ich die Leitung einer Psychiatrischen Universitätsklinik mit der damit verbundenen Verantwortung für Patienten und Mitarbeiter abgegeben habe, überkam mich die Lust, einen Roman zu schreiben, der meine berufsunabhängige geistige Welt abbildet. Dabei hat eine Rolle gespielt, dass das Bittere am Tod weniger das Vergehen des Körpers als das völlige und ewige Verschwinden der eigenen Gedanken und Gefühle, des eigenen Seins ist. Diese in einen Roman zu gießen, hilft da etwas. Schreiben intensiviert zudem das tägliche Leben, da alles auch vor der Folie des Romans und als Material für diesen gesehen werden kann. Eine reine Freude bereitet auch schon das Feilen an der perfekten, einfachen, stimmigen Formulierung. Ein Schuss „Sendungsbewusstsein“ war wohl auch dabei mit dem schönen Gefühl, endlich mal sagen zu können, was man schon immer sagen wollte. Obwohl: Die Frage, wie ehrlich kann und will ich wirklich sein, habe ich mir doch öfter gestellt. Ferdinand Céline hat mal gesagt, für einen wirklich ernstzunehmenden Schriftsteller gilt „Il faut mettre la peau sur la table“, man muss seine Haut auf den Tisch legen. Das ist eine strenge Forderung.
Ein zentrales Thema des Romans ist die Spannung zwischen Vernunft und Glaube – ein klassisches Thema christlicher Theologie. Ihre Diagnose des Psychiaters ist dabei präzise und unbequem. In Anlehnung an Albert Einstein („Wissenschaft ohne Religion ist lahm, Religion ohne Wissenschaft ist blind“): Glauben Sie, dass unsere moderne Gesellschaft zu einseitig auf rationales Wissen vertraut – und sich dadurch selbst verletzlich macht?
Folgende Überlegungen sind in den Roman eingeflossen: Wir leben in einer naturwissenschaftlich geprägten Welt, und da finde ich es interessant, sich zu fragen, welche spezifischen Emotionen Wissenschaft kennzeichnen und hervorbringen. In einem Vortragsraum hing mal ein Zettel mit folgenden Phasen einer wissenschaftlichen Studie: Begeisterung, Ernüchterung, Panik, Suche des Schuldigen, Auszeichnung des Nichtbeteiligten. Da sind einige Emotionen dabei, diese sind jedoch alle nicht wissenschaftsspezifisch. Auch Macht durch Wissen zu erlangen oder die Neugierde im Sinne von Gier auf Neues sind nicht spezifisch für Wissenschaft. Als spezifische Emotionen (Emotionen im Sinn von E-motionen, das Verhalten prägende Antriebe) sehe ich zwei: Erstens das Heureka rufen können, die Lust am Erklären, die man bei jedem „Warum?“ fragenden Kind oder bei der Freude am Rätsellösen beobachten kann, und zweitens die Distanziertheit gegenüber dem Gegenstand der Beobachtung. Eine kühle objektive Haltung zum Gegenstand der Forschung ist Teil der wissenschaftlichen Methodik. Man liebt vielleicht die Wahrheit, nicht jedoch den Gegenstand, den man möglichst unbeteiligt analysiert, seziert, klassifiziert. Diese naturwissenschaftliche Emotionalität hat im Rahmen der Aufklärung immer mehr Lebensbereiche durchdrungen und Bereiche, in denen früher Emotionen wie Scheu, Ehrfurcht oder Liebe prägend waren, verdrängt. Diese Distanziertheit gibt uns große Freiheit, alles, den eigenen Körper, die Schöpfung nach Belieben zu manipulieren, und hat uns die großartigen technischen Fortschritte ermöglicht, allerdings auch zu einem Verkümmern anderer Emotionen wie Ehrfurcht, Scheu, religiösem Erleben oder Liebe, die das Gegenteil von Distanziertheit ist, geführt. Es gibt nur noch Restbereiche, in denen eine rational-distanzierte Haltung verstörend wäre, z. B. bei religiöser Hingabe oder wenn eine Mutter, von der Liebe und Fürsorge erwartet wird, mit ihrem Kind psychologische oder andere wissenschaftliche Untersuchungen anstellen würde. Man kann nicht gleichzeitig liebevoll und fürsorglich einerseits und rational-distanziert andererseits sein. „Fides et Ratio“ sind nicht zu versöhnen, da sie von inkompatiblen Emotionen geprägt sind. Dieses Spannungsverhältnis hat die Kirche über die Jahrhunderte hinweg beschäftigt.
Der heilige Thomas von Aquin sagte: „Fides quaerens intellectum“ – Glaube, der das Verstehen sucht. In einer Welt, die scheinbar alle Rationalität verliert: Wie definieren Sie heute das rechte Verhältnis von Glaube und Vernunft? Wie also lassen sich Glaube und Vernunft heute überhaupt noch in ein sinnvolles Verhältnis bringen?
Da bin ich natürlich überfordert. Mir scheint aber, dass Glaube und Ratio durch inkompatible Emotionen geprägt und damit nicht wirklich zu versöhnen sind. Sie können höchstens in ein zeitliches und räumliches Verhältnis gebracht werden, so wie eine Mutter im Umgang mit ihrem Kind am Morgen von den Emotionen Liebe und Fürsorge geprägt ist, tagsüber dann als leitende, strategisch denkende Angestellte sich kühl-distanziert verhält und abends beim Treffen mit Freundinnen zum „Mädelsabend“ sich von unbeschwerter Heiterkeit leiten lässt. Jeder Bereich hat seine spezifischen Emotionen. Was aber diese vom Verstand her so naheliegende Lösung einer raum-zeitlichen Trennung fraglich macht, das ist die Tatsache, dass tiefer Glaube, so wie tiefe Liebe, einen Absolutheitsanspruch hat.
Wenn die Grundfesten der Wirklichkeit ins Wanken geraten – wie es in „Riss im Sein geschieht“ –, woran kann sich der Mensch dann überhaupt noch halten? Gibt es für Sie persönlich eine unverrückbare Konstante?
Ein Kleinkind findet die Welt mit all den Sinneseindrücken wunderbar, solange die Mutter da ist, nichts drückt, es nicht friert und keinen Hunger hat. Leiden in Form von Schuldgefühlen und Reue oder in Form von Sorge und Angst kommen erst später mit dem Denken. Denken macht traurig, hat mal jemand gesagt. Da ist was dran, glaube ich. Solange man sich mit anderen Menschen und der Welt verbunden fühlt, Liebe empfinden kann, die Gegenwart wertschätzt, stellt sich die Sinnfrage wenig. Das gilt noch mehr für Menschen, die zu Gottvertrauen fähig sind. Auch wenn ich nicht an einen personalen Gott glaube: Das Bewusstsein, dass unsere Existenz ein großes Geheimnis ist und wir nicht wissen, wo wir herkommen, wer wir sind und wo wir hingehen, nimmt für mich dem Tod etwas die Spitze. Auch was kommt ist ein Geheimnis.
Was bedeutet der titelgebende „Riss im Sein“ für Sie?
Ich freue mich meist, wenn etwas uneindeutig ist oder nicht so läuft wie geplant, natürlich nur, solange es nicht mit Unannehmlichkeiten für mich verbunden ist. Als kleines Kind konnte ich von oben aus dem Fenster auf eine ansteigende Nebenstraße mit einer Ampel blicken, und ich war begeistert, wenn sich im Winter die Räder durchdrehten und die Autos hängenblieben. Die Quantenmechanik oder die Astrophysik faszinieren mich mit ihren dem gesunden Menschenverstand ins Gesicht schlagenden Erkenntnissen. Auch die Einsicht Kants, dass Raum und Zeit nicht unabhängig von uns bestehen, sondern nur die Art und Weise sind, wie wir die Welt wahrnehmen können, fasziniert mich und verändert mein Lebensgefühl. Wenn alles zu Treibsand wird und nicht mehr sicher ist, dass 1 + 1 = 2 ist, dann bleibt uns nur Gottvertrauen.
Die französische Philosophin Simone Weil schrieb: „Gott kann nicht in einer Welt wohnen, die erklärt ist.“ Ein Satz, der auch Ihr Schreiben zu betreffen scheint – wecken Sie mit dem Roman bewusst die Sehnsucht nach dem Unverfügbaren?
Ja, vielleicht steckt hinter diesem Hang zum Uneindeutigen, zum Unerklärlichen eine solche Sehnsucht. Ich habe darüber noch nicht nachgedacht. Uneindeutigkeit hat jedenfalls einen tiefen Reiz. Ohne diese gäbe es auch keinen Glauben, sondern nur Wissen und Nicht-Wissen. Wie wäre unser Leben, wenn es eindeutige unumstößliche Beweise für Gott gäbe, dessen unendliche Gegenwart eine schlichte Tatsache wäre? Es ist interessant, sich dies vorzustellen. Wäre das Leben dann freier, schöner, besser, sinnvoller? Müssten wir einem Gott nicht sogar dankbar sein, dass er seine Existenz vor uns verschleiert?
„Denn die sichtbare Welt ist vergänglich, die unsichtbare aber ewig“ (2 Kor 4,18) – In „Riss im Sein“ verändert sich das Sichtbare dramatisch. Wollen Sie die Leser einladen, sich wieder mehr auf das Unsichtbare und Ewige auszurichten?
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Ja, vielleicht ist das tatsächlich ein Anliegen, auch mir selbst gegenüber. Wenn wir überlegen, was sind unsere frühesten Erinnerungen, dann sind das nicht immer objektiv herausragende Lebenssituationen. Manchmal scheinen das nur Momente mit einer tieferen Bewusstheit gewesen zu sein, in denen wir dem „Ewigen“, dem „Heiligen“ nahegekommen sind. Bei mir selbst und anderen kann ich beobachten, dass wir Situationen der stillen Anschauung, die solche intensiven Momente hervorrufen könnten – z. B. außerhalb der Stadt den nächtlichen Sternenhimmel betrachten – sogar aus dem Weg gehen. Diese Berührung durch das Unendliche, dieses Spüren des Heiligen sind mit einem Schrecken verbunden. Das Handy ist die perfekte Allzweckwaffe gegen solche Momente.
Hinweis: Interviews wie dieses spiegeln die Ansichten der jeweiligen Gesprächspartner wider, nicht notwendigerweise jene der Redaktion von CNA Deutsch.